G. Kleu: Die Neuordnung der Ostkantone Belgiens 1945-1956

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Titel
Die Neuordnung der Ostkantone Belgiens 1945-1956. Politik, Kultur, Wirtschaft in Eupen, Malmedy und St. Vith


Autor(en)
Kleu, Gerd
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter M. Quadflieg, RWTH Aachen University

In Zeiten einer, durch die andauernde belgische Staatskrise, unsicheren Zukunft liegt nun ein neues hochinteressantes Werk zur Geschichte des Gebiets der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (DG) vor. Gerd Kleu begibt sich mit seiner Studie in die ‚Stunde Null‘ der historischen Entwicklung der DG – dieses kleinen Gebiets im Dreieck der deutschen, niederländischen und luxemburgischen Grenze.

Das Untersuchungsgebiet gehörte seit 1815 zu Preußen und wurde erst durch den Versailler Friedensschluss aus dem Deutschen Reich ausgegliedert. Die der Abtretung folgende Zeitspanne von rund 20 Jahren war geprägt durch den Dualismus von integrationsbereiten ‚Probelgiern‘ und revanchistischen ‚Prodeutschen‘, die eine Wiederangliederung an das Reich forderten. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten spitzte sich dieser Konflikt zu und nach der Eroberung und Annexion des Gebietes durch das ‚Dritte Reich‘ rechneten die ‚Prodeutschen‘ gnadenlos mit ihren politischen Gegnern ab. So verwundert es nicht, dass die Vergeltung nach der Befreiung der Ostkantone hart, tiefgreifend und oft auch undifferenziert ausfiel. Der besonderen Situation der deutschsprachigen Minderheit wurde dabei von Seiten der belgischen Politik anfangs kaum Rechnung getragen. So entstanden tiefe gesellschaftliche Gräben, die bis heute in Ostbelgien spürbar sind. Gerhard Kleu hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Gräben gemacht und ein umfassendes Bild jener Jahre gezeichnet.

Sein Buch gliedert sich in fünf Abschnitte mit zehn Kapiteln, einen 20seitigen Dokumentenanhang, sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Die von ihm getroffenen Aussagen belegt Kleu im umfangreichen Fußnotenapparat. Teilweise bisher unveröffentlichte Bilder und Kartenmaterial illustrieren die Aussagen des Textes.

Nach einer kurzen Einleitung gibt Gerhard Kleu zunächst einen Überblick über die geographische Lage und die Demographie der Ostkantone. Aufschlussreich sind in diesem Teil vor allem Kleus Ausführung zur Bezeichnung des Gebiets, da die variantenreichen Benennungen („Eupen-Malmedy“, „Neubelgien“, „Ostkantone“, „Deutschbelgien“, „Deutschostbelgien“ und schließlich „deutschsprachiges Belgien“) die wechselvolle Geschichte des Gebiets widerspiegeln.

In einem weiteren einleitenden Kapitel liefert Gerhard Kleu einen rund 20seitigen Überblick über die Geschichte des Gebiets vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg. Diese Ausführungen sind äußerst lesenswert und erleichtern das Verständnis der Nachkriegsereignisse. Die Kapitel II.3 und II.4, welche sich mit der Zeit zwischen der Abtretung des Gebiets von Deutschland an Belgien durch den Versailler Vertrag 1919 und der Befreiung durch die Alliierten im Herbst 1944 beschäftigen, offenbaren jedoch bereits vor dem eigentlichen Untersuchungsschwerpunkt die große Schwäche von Gerhard Kleus Pionierstudie. Seine Argumentation fußt auf der mittlerweile durch die Forschung 1 entkräfteten These, dass die NS-Annexion des Gebiets von einer Mehrheit der ostbelgischen Bevölkerung abgelehnt worden sei und sich die Eupen-Malmedyer zwischen 1940 und 1944 gewissermaßen in einer inneren Immigration befunden hätten. Aussagen wie „Es gab viele, die eine Revision befürworteten, die nationalsozialistische Ideologie aber ablehnten“ (S.27), spiegeln nicht den aktuellen Forschungsstand, sondern den der 1970er- und frühen 1980er-Jahre wider.

In diesem Zusammenhang erinnert der Versuch, die Ergebnisse der Parlamentswahl 1939, bei der die nationalsozialistische ‚Heimattreue Front‘, Sammelbecken der Revanchisten in Ostbelgien, ‚nur‘ 45,7 Prozent und damit nicht die Mehrheit der Stimmen erreichte, als Sieg der Demokratie und als Bekenntnis zu Belgien zu werten, an die abenteuerliche Argumentation, die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 mit einem NSDAP-Ergebnis von 43,9 Prozent als Ablehnung Hitlers durch die Mehrheit der Deutschen zu interpretieren. Leider erkennt Gerhard Kleu nicht, dass er selbst diese Grundthese ad absurdum führt, wenn er zum Abschluss seiner einleitenden Kapitel resümiert: „Seit Herbst 1944 hatte sich die Stimmung so weit gedreht, dass die Bevölkerung nun eine Intergration in den belgischen Staat befürwortete.“ (S. 36) Dass sich zum Zeitpunkt der Befreiung, aber eben erst nach vier Jahren Integration in den NS-Staat, die ohne nachweisbare kollektive Widerstandsaktivitäten abgelaufen war, die Bevölkerung die Rückkehr auf die Seite des Siegers wünschte, ist auch ohne den argumentativen Spagat zur vermeintlichen Ablehnung der Annexion plausibel.

Den rund 100seitigen Hauptteil seiner Arbeit widmet Kleu den verschiedenen Aspekten des Neubeginns in Ostbelgien. Nacheinander setzt er sich mit dem politischen, administrativen, juristischen, bildungspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Neubeginn sowie den Neuanfängen im Gesundheits- und Versicherungswesen und der Grenzziehung auseinander.
Da er auch eine Einordnung der politischen Säuberungen nicht auslässt, arbeitet Gerhard Kleu die wichtigsten Aspekte der ‚Stunde Null‘ in Ostbelgien ab. Dabei bleibt seine Argumentation weitgehend nüchtern und objektiv, was zur Verständlichkeit des Buches ebenso beiträgt wie die klare, unaufgeregte Sprache und die nachvollziehbare inhaltliche Gliederung.

So erfährt der Leser viel Neues, beispielsweise über die Rolle des durch die belgische Zentralregierung für die Ostkantone eingesetzten Verwaltungschefs Henri Hoen, eine der Schlüsselfiguren der unmittelbaren Nachkriegsentwicklung. Es wird deutlich, welche Strategien der belgische Staat verfolgte, um sein Ziel der 100prozentigen Assimilation des Gebietes zu erreichen. Kleu macht dabei deutlich, zu welchen Konflikten es in den ersten Jahren jenseits der allgemeinen Wiederaufbau- und Entnazifizierungsprobleme kam. Er zeigt, dass erst nach und nach durch Hoen und andere Vorreiter der Reintegration ein Verständnis in belgischen Regierungskreisen dafür geschaffen werden konnte, dass sich die Lage in den Ostkantonen grundlegend von der im übrigen Belgien unterschied und daher eine differenziertere Herangehensweise in Fragen der Ahndung von Kollaboration, der Repatriierung und der allgemeinen Entnazifizierung erforderte.

Es ist äußerst beachtenswert, welche Mühe sich Gerhard Kleu gegeben hat, seine Aussagen auf eine möglichst breite Quellenbasis zu stellen. So verwendet er die Memoiren und Aufzeichnungen der damaligen Entscheidungsträger ebenso wie die verfügbaren Sachakten. Ergänzt wird diese umfangreiche Quellenarbeit durch Akten aus dem kirchlichen Umfeld und eine fast lückenlose Auswertung der verfügbaren Sekundärliteratur. 2 Die Auswahl wichtiger Dokumente im Anhang des Bandes ermöglicht dem Leser zudem die direkte Auseinandersetzung mit den Primärquellen.

Gerhard Kleu gelingt es in seinem bemerkenswerten Buch, die Balance zu finden zwischen einer einführenden Gesamtdarstellung auf der einen und der Darstellung interessanter Detailaspekte auf der anderen Seite. Übersichtliche Zusammenfassungen runden die einzelnen (Teil-)Kapitel ab. Dabei vermeidet der Autor allerdings Schlussfolgerungen mit Thesencharakter.

Kleus Gesamtfazit fällt differenziert aus. Er scheut sich nicht, neben den ‚Wilden Säuberungen‘ durch die Widerstandsgruppen und Willkürmaßnahen in den Dörfern und Städten durch aufgebrachte ‚Probelgier‘ auch staatliche Maßnahmen als kontraproduktiv zu beurteilen. Wenn Kleu zu dem Schluss kommt, dass „im Jahr 1965 die politische, kulturelle und wirtschaftliche Situation in den Ostkantonen als stabil angesehen werden [konnte]“ (S. 156) und er damit die Integrations- und Wideraufbaupolitik grundsätzlich als Erfolgsgeschichte beurteilt, so verdeutlicht er ansatzweise dennoch, dass es im Zuge dieser Politik zu vielfältigen Ungerechtigkeiten, individuellen Schicksalsschlägen und tiefen Wunden in der Volksseele kam.

Gerhard Kleu ist es gelungen, den politischen und gesellschaftlichen Neuanfang in den belgischen Ostkantonen zu schildern. Gemeinsam mit den jüngst erschienen Arbeiten von Carlo Lejeune 3, die das Thema sehr viel provokanter behandeln, trägt Kleus Arbeit dazu bei, den Forschungsstand dieses bisher im Dunklen liegenden Kapitels der ostbelgischen Geschichte zu erhellen. Neue Detailstudien zum Wiederaufbauprozess in der heutigen Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens können mit Kleus Arbeit auf einen wichtigen Wegweiser zurückgreifen.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Lejeune, Carlo, Mut zur eigenen Geschichte. Der 8. Mai 1945 – Anmerkungen zur ostbelgischen Vergangenheit, St. Vith 1995; ders.; Fickers, Andreas; Cremer Freddy (Hrsg.), Spuren in die Zukunft. Anmerkungen zu einem bewegten Jahrhundert, Büllingen 2001.
2 Leider völlig unberücksichtigt blieb der wegweisende Aufsatz: Tiedau, Ulrich, Die Rechtslage der deutschsprachigen Bevölkerung in Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Kittel, Manfred u.a. (Hrsg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich, München 2007, S. 435-522.
3 Vgl. Lejeune, Carlo, Die Säuberung. Bd. 1: Ernüchterung, Befreiung, Ungewissheit (1920-1944) (Auf dem Weg zur Deutschsprachigen Gemeinschaft, Bd. 1), Büllingen 2005 und ders., Die Säuberung, Bd. 2: Hysterie, Wiedereingliederung, Assimilierung (1945-1952) (Auf dem Weg zur Deutschsprachigen Gemeinschaft, Bd. 2), Büllingen 2007.

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